Diesen Artikel habe ich im Winter 2009/2010 geschrieben. Leider iwar er auch in 2012 immer noch aktuell

Warum stehen Sie im Winter auf dem Bahnsteig und frieren?

während der Zug immer später kommt ...

oder .. Warum zählt die Verspätungsanzeige der Bahn immer hoch?
Und warum weiss die Bahn das nicht vorher?


Es gibt viele Mysterien des Alltags: Eines ist zum Beispiel, warum die Bahn anscheinend nicht weiss, dass ein Zug 30 Minuten zu spät kommen wird, sondern mal mit einer Verspätungsmeldung von 5 Minuten anfängt und das zählt dann immer weiter hoch. Wenn man Sie richtig informieren würde, könnten Sie schnell noch einen Kaffee holen und sich ins Warme stellen. So holen Sie sich mit ihrer dünnen Bürohose nach 40 Minuten Stehen bei minus 5 Grad auf einem windigen Bahnsteig eine Erkältung, werden 3 Tage später krank geschrieben und verlieren tausende Euros an Arbeitsausfall. Sie fragen sich dann: Warum ist das so? Muss das so sein? Ist das kundenfreundlich?

Dieses Verhalten gehört quasi zu den Mysterien des Alltags, die Bahnkunden einfach nicht verstehen können (und auch nicht wollen) - speziell nicht im Winter, wenn man sich auf dem Bahnsteig die Rückseite anfriert.

Was Sie beobachten können

Sie stehen zum Beispiel in Siegburg Bonn auf dem Bahnsteig und warten auf Ihren Zug nach München. Sie sehen eine Verspätungsanzeige von 5 Minuten. Sie denken sich - na super, wird es halt 18:16h statt 18:11h - macht auch nichts. Um 18:16 werden aus den 5 Minuten dann 10 Minuten - um 18:21 aus den 10 Minuten dann 20 und um 18:31h zeigt er dann 30 Minuten Verspätung an - um 18:50h kommt der Zug mit 39 Minuten Verspätung und sie fragen sich - ist die Bahn eigentlich völlig desinformiert? Wie kann das sein? Warum lassen die mich hier 40 Minuten in der Kälte stehen, wenn sie es auch besser wissen müssten?

Wie man zur Lösung kommt

Zunächst einmal kann man beobachten, dass die Verspätungsanzeigen relativ synchron mit denen auf der Webseite mobile.bahn.de sind. Wenn man sich die ansieht, dann sieht man, dass die Verspätung immer die ist, mit der der Zug aus der letzte Station rausgefahren ist - diese Verspätung wird zum Beispiel für die nächsten 3 Stationen angezeigt (und auch angenommen). Ein Zug hat Ulm in Richtung Stuttgart mit einer Verspätung von 9 Minuten verlassen - nach Bahnlogik sind das abgerundet +5 Minuten. Egal ob zum Beispiel zwischen Ulm und Stuttgart noch eine Baustelle ist - von der weiss der Algorithmus nichts. Nehmen wir an, die Bahn weiss, dass die bekannte Baustelle eine Zusatzverspätung von 10 Minuten ergibt. Davon weiss der Algorithmus aber nichts und zeigt +5 statt eigentlich bekannter +19 Minuten. 14 Minuten werden Sie in Stuttgart auf dem Bahnsteig stehen, frieren, sich ärgern und innerlich die Bahn verfluchen.

Merke also: Initiale Verspätungsprognose für die Ankunft im nächsten Bahnhof ist gleich Ist-Verspätung beim Verlassen des letzten Bahnhofes (abgerundet auf standardisierte Stufen 5, 10, 20, 30, ...).

Dabei wird normale Fahrzeit unterstellt. Fragt sich: Woraus kann man das schließen? Wie gesagt: Baustellen werden beobachtbar nicht eingerechnet. Da springt dann "rein zufällig" die Verspätung hoch, obwohl Baustellen geplant werden. Ebenso wird Aufnahme verspäteter Anschlusspassagiere erst dann berücksichtigt, wenn ein Zug den Bahnhof wieder verlässt. Nicht, wenn bekannt ist, dass auf Passagiere gewartet wird.

Weiteres Beispiel: Auch geplante reduzierte Fahrgeschwindigkeit wird nicht eingerechnet. Das konnte man sehr schön aus der Geschwindigkeitsreduzierung Anfang Februar auf der Schnellstrecke Frankfurt Flughafen -> Siegburg Bonn ableiten. Verspätung bei Verlassen Frankfurt waren +20 min. Diese Verspätungsanzeige wurde auch dann noch angezeigt, als der Zug knapp 100 KM vor Siegburg war (festzustellen mit dem iPhone GPS). Das war genau zum Zeitpunkt der geplanten Ankunft zum Beispiel um 22:52h -- nur leider war klar, dass der Zug bei den erlaubten max. 200 km/h (statt ca. 300 km/h regulär) für die restlichen 100 Kilometer noch ca. 30 Minuten brauchen würde. Würde der Rechner also die maximal erlaubte Geschwindigkeit zur Echtzeit kennen und verwenden, würde er 30 Minuten Verspätung prognostiziert haben. Hat er aber nicht. Sondern er hat um 23:12h auf die nächste Verspätungsstufe 30 Minuten (statt 20) hochgezählt, nachdem der Zug in Siegburg nicht zum prognostizierten Zeitpunkt eingetroffen war.

Zusammenfassung - Was weiß dieser Algorithmus also über Streckenverhältnisse zum Prognosezeitpunkt

Die Antwort ist leider so ernüchternd wie enttäuschend: Offensichtlich gar nichts!
Sprich der Bahn-Rechner weiss für seine Prognosen weder etwas über bekannte Baustellen, noch über Geschwindigkeitseinschränkungen, noch über sonstige planbare Verspätungen, noch über die GPS Position des Zuges.

Jedes drittklassige KFZ-Navigationsgerät für 150 Euro macht das erheblich besser. Von den teuren, die auch Stauinformationen verarbeiten mal ganz zu schweigen.

Die obigen Beobachtungen erklären auch das Hochzählen der Verspätungsanzeigen an den Bahnsteigen. Der Zug verlässt mit zum Beispiel 9 Minuten Verspätung Köln Hbf Richtung Siegburg. Man kann beobachten, dass dies grundsätzlich immer auf die nächste Stufe abgerundet wird: 9 Minuten werden auf 5 abgerundet. 4 Minuten 30 Sekunden sind definiert pünktlich = 0 Minuten Verspätung. Wenn der Zug dann zum prognostizierten Zeitpunkt den nächsten Bahnhof nicht erreicht hat, wird auf die nächste Verspätungsstufe hochgezählt. Also 10 Minuten. Das können aber auch 19 sein - denn es werden die standardisierten Stufen verwendet.

Warum stehen Sie also auf dem Bahnsteig und frieren?

Wenn der Zug also irgendwo zwischen Köln und Siegburg an einer Baustelle noch 15 Minuten aufgehalten wird, stehen Sie auf dem Bahnsteg und frieren, obwohl es die Bahn eigentlich besser wissen müsste.

Rätsel des Alltags gelöst!

Der Algorithmus hat für die Bahn evidente Vorteile: Er ist sehr sehr einfach, beruht nur auf statischen Informationen und dem Zeitpunkt wann ein Zug einen Bahnhof verlässt und kostet die Bahn daher minimale Rechenleistung. Die Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass eine ehrliche Kundeninformation für die Bahn nicht die höchste Priorität haben dürfte! Man kann es auch etwas böser formulieren. Die Bahn verschwendet zehntausende wenn nicht hunderttausende Stunden ihrer Kunden, um die Projektkosten für eine "state-of-the-art" Verspätungsprognose einzusparen.

Glauben Sie nicht?

Dann hier ein kleines Beispiel. Es ist der 31.1.2010 um 18:32. ICE 992 aus München HBf nach Hannover sollte seit 18:23h unterwegs sein. Er steht aber um 18:32 noch in München Hbf und wartet auf Anschlussreisende (das wird er 20 Minuten tun - also ca. 18:43 den Hbf verlassen) und ca. 18:51 (statt 18:31) in München-Pasing eintreffen. Die Passagiere, die in München-Pasing auf dem Bahnsteig stehen, sehen um 18:32 ein "plus 5 Minuten" und werden mehr als 20 Minuten in der Kälte stehen, obwohl die Bahn die Ursachen kennt und die Verspätung berechnen könnte. Statt 20 Minuten auf dem Bahnsteig zu stehen und zu frieren, kann man auch etwas anderes tun, zum Beispiel einen schönen Kaffee trinken und noch was arbeiten oder lesen.




Disclaimer

Der hier geschilderte Algorithmus beruht auf Beobachtungen eines Vielfahrers - wenn ein Bahnmitarbeiter mehr weiss, können Sie gerne eine bessere Erklärung zur Verfügung stellen. Auffällig ist, dass die Bahn darüber im Web nicht informiert. Bessere Informationen als die auf dieser Seite werde ich gerne hier posten. Ich vermute allerdings, dass meine Beobachtungen relativ akkurat sein dürften!

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